Gerhard Potuschek im Gespräch mit dem Gesundheitsexperten und BIV-Mitglied Prof. Dr. Andreas Beivers

Potuschek: Herr Prof. Beivers, Sie waren im Expertenbeirat  einer Bertelsmann-Studie zur Neuordnung der Krankenhauslandschaft, die viel Aufsehen erregt hat und zu dem Ergebnis kommt, dass die Zahl der Kliniken in Deutschland von aktuell 1.400 auf weniger als 600 reduziert werden könnte und die Patienten dennoch deutlich besser versorgt wären. Haben wir denn in Deutschland  wirklich zu viele Krankenhäuser, wie in der Studie behauptet?

Beivers: Die derzeitige Krankenhausstruktur ist historisch gewachsen und das Ergebnis länderspezifischer Vorstellungen in der Krankenhausplanung. Viele Krankenhäuser, vor allem in den westlichen Bundesländern, sind mehr als 30 Jahre alt und wurden  geplant,  als der medizinische Bedarf, der Stand der Wissenschaft, aber auch die Verteilung und Mobilität der Bevölkerung noch ganz anders waren als heute. Dies führt in vielen Bereichen zu Problemen.

Erklärtes Ziel der Versorgungsplanung in Deutschland ist die Gewährleistung eines flächendeckenden Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen für alle Bürgerinnen und Bürger. Dazu wurde auf planerischer Seite versucht, eine Dekonzentration zu erreichen und viele kleine Krankenhausstandorte im Raum zu verteilen. Dieser Planungslogik folgend, stellen viele Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung eine breite Grundversorgung in der Fläche sicher, während die Krankenhäuser der Schwerpunkt- und Maximalversorgung die medizinisch komplexeren und spezialisierten Kapazitäten vorhalten. Wie engmaschig diese Versorgung sein soll, ist jedoch bundesgesetzlich nicht definiert.

In Deutschland fällt die Krankenhausdichte relativ hoch aus. Sowohl innerhalb Deutschlands als auch im internationalen Vergleich ist jedoch eine große Streuung festzustellen. Zieht man die ostdeutschen Bundesländer als Benchmark heran, könnte die Anzahl der Krankenhäuser  in ganz Deutschland um 14% niedriger ausfallen. Dies gilt auch, wenn man Deutschland mit dem OECD-Schnitt vergleicht. Zieht man nur jene OECD-Länder als Benchmark heran, deren Krankenhausdichte unterhalb derjenigen in Deutschland liegt, könnte sie sogar um 37 Prozent niedriger sein.

Prof. Dr. Andreas Beivers (40) ist einer der führenden Gesundheits- und Krankenhaus-ökonomen in Deutschland. Mit dem Thema „Ländliche Krankenhausversorgung“ hat er 2009 promoviert. Seit 2011 ist er Professor für Volkswirtschaftslehre und Studiendekan für Gesundheitsökonomie an der Hochschule Fresenius in München. Andreas Beivers ist verheiratet und Vater eines achtjährigen Sohnes. Seit seiner Geburt ist er bei der BARMER versichert und seit August 2019 Mitglied der BARMER Interessenvertretung (BIV). Auf dem Bild: Gerhard Potuschek (links) und Andreas Beivers (rechts)

Potuschek: Jens Spahn hat vor kurzem formuliert: „Ein Krankenhaus vor Ort ist für viele Bürger ein Stück  Heimat.“ Gerade in gesundheitlichen Notlagen braucht es eine schnell erreichbare Versorgung. Ist das durch die vorgeschlagene Strukturreform besonders in den ländlichen Regionen überhaupt noch sicherzustellen?

Beivers: Die Sicherung einer angemessenen flächendeckenden medizinischen Versorgung der Bevölkerung ist ein wichtiges Element der öffentlichen Daseinsvorsorge. Die Bereitstellung flächendeckender Krankenhauskapazitäten erfolgt über eine staatliche Angebots- bzw. Kapazitätsplanung und deren Umsetzung über die Krankenhauspläne der einzelnen Bundesländer. Die derzeitige Erreichbarkeit der Krankenhäuser in Deutschland kann dabei als hervorragend bezeichnet werden, wie die verschiedenen Analysen zeigen. Über 99%  der Bevölkerung erreichen demnach innerhalb von 30 Minuten das wohnortnächste Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung.

Aber natürlich hat Minister Spahn Recht, dass eine zeitnahe Versorgung insbesondere im Bereich der Notfallversorgung  große Bedeutung hat. Die Notfallmedizin in Deutschland genießt dabei national wie international hohes Ansehen, vor allem aufgrund ihrer Flächendeckung und ihrer allgemeinen Zugänglichkeit. Das medizinische Rettungswesen beruht auf gewachsenen historischen Strukturen und zeigt regionale Unterschiede, da sie föderal durch die einzelnen Bundesländer organisiert wird. Die Versorgung im medizinischen Notfall basiert auf drei  Säulen: Ambulante Therapie, Rettungswesen und Notaufnahme im Krankenhaus. Sicher bedarf es  auch hier weiterer Verbesserungen, unter anderem um die Qualität und die Erreichbarkeit noch effektiver und effizienter zu gestalten. Deswegen ist die aktuelle Gesundheitspolitik derzeit auch sehr aktiv und beschließt viele wichtige Reformen. Es zeigt sich aber auch, dass  durch weniger, aber personell und apparativ besser ausgestattete Notfallstandorte die Versorgung qualitativ verbessert werden könnte. Hier sind vor allem erreichbarkeitsorientierte Analysen, die auf moderne Geo-Informations-systeme beruhen, zielführend. Oberstes Ziel muss sein, dass jeder Notfall die perfekte Versorgung bekommt, die er gerade braucht. Das rettet Leben. Studien zeigen, dass rund 750 hoch ausgestattete Notfallzentren ausreichen würden, um 99,6% der Bevölkerung bei einem maximalen Anfahrtsweg von 30 Minuten zu versorgen.

Aber nicht nur im Notfall zählt die Erreichbarkeit, sondern auch in der Nachsorge, unter anderem im ambulanten Bereich. Das kann und sollte niemand außer Acht lassen, gerade nicht in einer alternden Gesellschaft. Auch wenn Vergleiche mit anderen Ländern wie Dänemark oder Schweden zielführend sein können, dürfen wir nicht vergessen, dass es hier um unsere Versorgung geht, die wir auf unsere Bedürfnisse anpassen müssen.  Sicher wird es aber sinnvoll und notwendig sein, über eine Konzentration stationärer Versorgungskapazitäten nachzudenken. Hauptgrund ist vor allem der Personalmangel im pflegerischen und medizinischen Bereich, der es uns nicht mehr ermöglicht, alle Kliniken personell so zu besetzen, dass dort eine optimale Versorgung stattfinden kann. Wir sind also in erster Linie vom Mangel in diesem Bereich getrieben. Aus diesem Grund müssen wir auch vermehrt an logistischen Konzepten arbeiten, sprich: Wo stehen die neuen Krankenhäuser der Zukunft, wie sehen sie aus und wie können diese von der Bevölkerung ohne Probleme und schnell erreicht werden. In diesem Zusammenhang muss man auch über einen Ausbau von Fahrdiensten nachdenken.

Potuschek: Trotz der vorgeschlagenen Veränderungen in der Krankenhauslandschaft erhalten 120 Häuser in ländlichen Regionen von den Krankenkassen im nächsten Jahr finanzielle Zuwendungen von jeweils 400.000 Euro und damit insgesamt 48 Millionen Euro. Werden damit nicht die Strukturen einfach weiter gefestigt, statt mit einer, unter Experten unstrittigen, notwendigen Reform zu beginnen?

Beivers: Ja, das stimmt. Da haben Sie vollkommen Recht. Eigentlich ist unter den meisten Beteiligten bekannt, dass die derzeitige Struktur nicht optimal ist und wir eine Restrukturierung der Krankenhauslandschaft benötigen. Es geht ja schließlich um die Behandlungsqualität der Patientinnen und Patienten und die Beitragsgelder der Versicherten. Jedoch zeigt sich, dass es aufgrund von regionalpolitischen Aspekten nicht immer ganz einfach ist, vor Ort Anpassungen durchzuführen. Hier muss die Bundes- und Landespolitik den regional Verantwortlichen helfen und klare Rahmenbedingungen vorgeben (z. B. Mindestmengen).  Auch können Bürgerinnen und Bürger durchaus von der Politik verlangen, neutral über die regionale Versorgungslage aufgeklärt  und dann mit konkreten Lösungsoptionen konfrontiert zu werden. Populismus hilft keinem weiter und ist gerade in einem so wichtigen Bereich wie in der Gesundheitsversorgung nicht geboten.

An dieser Stelle aber auch mal ein Lob an die Gesundheitspolitik der Bundesregierung. So ist aktuell  vorgesehen, den Umbau von nicht mehr bedarfsnotwendigen Krankenhaus-standorten beispielsweise in ambulante (geriatrische) Versorgungszentren finanziell zu unterstützen (sog. Strukturfonds). Das geht auf alle Fälle in die richtige Richtung, auch wenn die bis dato bereitgestellten Mittel bei weitem nicht ausreichen. Den Umbau der Kranken-hauslandschaft können nicht alleine die Versicherten finanzieren. Das ist eine gesamt- gesellschaftliche Aufgabe, für die es mehr Steuermittel benötigt.

Potuschek: Wie schätzen Sie überhaupt die Realisierungschance der in der Studie vorgeschlagenen Strukturreform ein und welcher Zeithorizont würde dafür benötigt? Gerade bei den Häusern in öffentlicher Hand geht es doch auch um Struktur-, Arbeitsmarkt- und Arbeitsplatzpolitik. In vielen Gemeinden und Landkreisen ist das Krankenhaus der größte Arbeitgeber.

Beivers: Bereits der erste Paragraph des Krankenhausfinanzierungsgesetzes stellt eine bedarfs-gerechte Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen, qualitativ hochwertig und eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäusern in den Mittelpunkt. Kaum ein anderer Begriff ist dabei so schwierig zu fassen wie der der Bedarfsgerechtigkeit. Immer wieder kommt es in diesem Zusammenhang zu kontroversen Debatten, gerade wenn es um die Schließung von Fachabteilungen oder ganzer Kliniken geht. Die Bedarfsgerechtigkeit  erlangt dann schnell  regionalpolitische Bedeutung. Dabei haben die unterschiedlichen Player oft divergierende Vorstellungen über eine bedarfsgerechte Versorgung und versuchen im Rahmen von Bürgerbegehren auch die lokale Bevölkerung zu befragen. Aus gesundheits-ökonomischer Sicht geht es bei Bedarfsgerechtigkeit vor allem um die effiziente Versorgung der Bevölkerung, die Wirtschaftlichkeit einerseits und Qualität andererseits berücksichtigt. Hieraus abgeleitet ergibt sich die Frage, ob Bürgerbeteiligungen zu einer effizienten Lösung beitragen können.

Da Krankenhäuser als Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge wichtige Grundpfeiler für die wohnortnahe Versorgung der Bevölkerung darstellen, ist die Besorgnis der lokalen Bevölkerung natürlich nachvollziehbar und darf nicht unterschätzt werden. Deshalb muss hier ein offener und ehrlicher Dialog geführt werden. Zum anderen haben gerade ländliche Krankenhäuser auch eine wichtige strukturpolitische Funktion. So sind, wie Sie richtig feststellen, Krankenhäuser für den ländlichen Raum ein wichtiger Teil des regionalen Arbeitsmarktes. Vor allem in dünn besiedelten, strukturschwachen Gebieten sind Krankenhäuser ein wichtiger lokaler Arbeitgeber, der sichere, qualifizierte und familienfreundliche Arbeitsplätze für die Bevölkerung bietet. Oftmals sind ländliche  Krankenhäuser sogar die größten Arbeitgeber in der jeweiligen Region.

Allerdings müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass das Gesundheitssystem kein Selbstzweck ist, sondern ausschließlich die Versorgung der Bevölkerung im Mittelpunkt haben muss. Regionale Wirtschaftspolitik zu betreiben, ist sicherlich berechtigt, doch muss dies im Rahmen der Raumordnung und der Landesentwicklung über Steuermittel erfolgen und nicht über zweckentfremdete Mittel der Versichertengemeinschaft. Diese Aspekte dürfen hier keine Rolle spielen. Es geht allein um die bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung. Das heißt im Übrigen ferner, dass diese bereitgestellt werden muss, auch wenn sie defizitär sein sollte. Entscheidend ist immer die Bedarfs- und Versorgungsrelevanz.

Potuschek: Wenn Sie von einer bedarfsgerechten Versorgung sprechen: Können Sie diese einmal genauer definieren? Werden durch eine Bündelung von Versorgungskapazitäten nicht die Bedürfnisse älterer, multimorbider und immobiler Menschen, die auf eine wohnortnahe stationäre Grundversorgung angewiesen sind, vernachlässigt?

Beivers: Bedürfnisse ist ein gutes Stichwort: Das übergeordnete Ziel der Gesundheits- und damit auch der Krankenhausversorgung muss die Bedarfsgerechtigkeit für alle sein. Als bedarfsgerecht sollte eine Versorgung dann bezeichnet werden, wenn sie in quantitativer und qualitativer Hinsicht dem Bedarf der Versicherten bzw. der Bürgerinnen und Bürger entspricht. Unterscheiden kann man dabei in den „objektiven Bedarf“ und den „subjektiven Bedarf“. Der objektive Bedarf kann über die Vermeidung der verschiedenen Arten von Fehlver-sorgung ermittelt werden. Dies impliziert zum ersten die qualitative Fehlversorgung und meint die  Versorgung mit nicht fachgerechter Erbringung der Leistungen. Qualitative Fehlversorgung kann zu medizinischen Schäden bei den Betroffenen sowie zu finanziellen Schäden für die Solidargemeinschaft führen. Messgrößen sind zum Beispiel Komplikations-raten.

Das Zweite ist die Unterversorgung und beschreibt die unterlassene oder nicht rechtzeitige Durchführung bedarfsgerechter Behandlungsleistungen. Sie  kann zu medizinischen Schäden bei den Betroffenen führen. Ein  Kriterium zur Vermeidung von Unterversorgung ist die Erreichbarkeit von Gesundheitsleistungen, die  gerade für ältere und multimorbide Menschen wichtig ist. Daher muss vor allem eine wohnortnahe Nachsorge der Bevölkerung im Fokus stehen. Das kann ambulant oder auch in speziellen Versorgungsformen erfolgen. Es muss nicht immer ein Krankenhaus sein, das die ganze Breite der medizinischen Leistungser-bringung vorhält. Denkbar sind hier zum Beispiel auch geriatrische Versorgungs-zentren, in die nicht mehr bedarfsgerechte Standorte umgewandelt werden könnten.

Der dritte Aspekt der Fehlversorgung ist gerade aus Sicht der Versichertengemeinschaft wichtig: Die Überversorgung, das heißt die Versorgung mit nicht bedarfsgerechten, medizinisch nicht notwendigen Leistungen zum Beispiel aufgrund einer nicht adäquaten Indikationsstellung. Eine Überversorgung kann zu medizinischen, vor allem aber zu finanziellen Schäden für die Solidargemeinschaft führen. Wichtige Messkriterien sind hier zum Beispiel Fallzahlenentwicklungen von abgerechneten Leistungen. Eine objektive Bedarfsgerechtigkeit der Versorgung ist dann erreicht, wenn keine der drei aufgelisteten Arten von Fehlversorgung vorkommt. Das muss unser Ziel sein.

Der subjektive Bedarf orientiert sich im Wesentlichen am subjektiv empfundenen Bedarf der Patienten/Bevölkerung und wird durch Befragungen ermittelt. Verschiedene Patientenbe-fragungen zeigen ein einheitliches Bild der aus Patientensicht wichtigsten Kriterien bei der Krankenhauswahl. An erster Stelle steht dabei bereits bei leichteren Erkrankungen die medizinische Qualität. Auskunft hierüber geben Qualitätskennzahlen der Kliniken. Aber auch die Reputation der Klinik ist zentral und steht mit deutlichem Abstand an zweiter Stelle der subjektiven Bedarfsgerechtigkeit. Die Ermittlung der Reputation ist allerdings schwierig und sehr stark abhängig vom Einzelfall. Zum Schluss bleibt  auch die Erreichbarkeit der Klinik ein wichtiger Punkt, jedoch weniger bei schweren Behandlungsanlässen, sondern vor allem bei niedrigschwelligen Versorgungsangeboten. Diese wohnortnah anzubieten, könnte beispielsweise durch neu zu schaffende Versorgungszentren erfolgen.

Potuschek: Sie zeigen auf, dass etwa fünf Millionen Patientinnen und Patienten pro Jahr genauso gut ambulant behandelt oder operiert werden könnten. Heute haben wir doch in Teilen schon die Situation des Ärztemangels verbunden mit langen Wartezeiten, gerade bei den Fachärzten. Wie steht das im Einklang mit den von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen?

Beivers: Wartezeiten sind ein Thema. Jedoch muss man sagen, dass wir hier im internationalen Vergleich  gut aufgestellt sind und uns unserer relativ guten Situation gar nicht bewusst sind. Dennoch müssen wir  noch besser werden. Ein Hauptproblem ist, dass wir – gerade im Vergleich zu anderen, modernen Gesundheitssystemen – zu viele Patienten vollstationär behandeln und nicht die Möglichkeiten der modernen Medizin nutzen, dies stationser-setzend zu tun, sprich teilstationär oder ambulant. Im Wesentlichen liegt das daran, dass es für Kliniken und Ärzte derzeit finanziell weniger attraktiv ist, stationsersetzend zu arbeiten. Hier müssen wir an den Anreizen, aber auch an den Versorgungsstrukturen arbeiten. Dafür sind unter anderem  die Bundesländer zuständig, die vermehrt in neue, innovative Krankenhausbauten investieren sollten, um eine derartige Versorgung zu ermöglichen. Das könnte dann auch so manches Wartezeitproblem lösen. Wir haben nämlich gar nicht so wenig Ärzte und Pflegepersonal pro 1.000 Einwohner wie alle internationalen Statistiken zeigen. Aber wir haben zu wenig Personal pro Patient. Das heißt, wir behandeln entweder zu viele Patienten oder wir versorgen sie mit einer falschen Struktur. Ich denke, hier haben wir noch Luft nach oben.

Potuschek: Die freie Krankenhauswahl gehört doch faktisch der Vergangenheit an, wenn durch die Spezialisierung und Zentrenbildung quasi die Indikation das Krankenhaus vorgibt, in der meine Behandlung erfolgen kann. Schränkt das nicht die hoch geschätzte Wahlfreiheit und Patientensouveränität ein, an deren Stelle eine rigide Patientensteuerung treten soll?

Beivers: Nein, das denke ich nicht. Die freie Krankenhauswahl ist und bleibt ein wichtiges Ziel,  an dem im Grundsatz niemand rütteln will. Wenn Patientinnen und Patienten sich freiwillig für eine Krankenhausempfehlung, beispielsweise durch ihre Krankenkasse, aussprechen, kann das sehr gut  sein. Wichtig ist aber, dass sie immer frei entscheiden können. Sicher impliziert das dann manchmal weitere Wege. Diese nehmen die Versicherten aber schon heute freiwillig in Kauf,  da ein Großteil der Patientinnen und Patienten weitere Wege zurücklegt, um eine hochspezialisierte Versorgung zu genießen.  Daher entspricht das skizzierte Modell zum Teil schon der heutigen Realität.

Potuschek: Derzeit fehlen den Kliniken bereits Fachärzte und vor allem Pflegepersonal, was teilweise zu Stationsschließungen führt. Sehen Sie realistische Chancen, durch eine Konzentrierung der Krankenhauslandschaft diese Probleme zu minimieren oder zu beheben?

Beivers: Für den Personalmangel gibt es nicht nur eine Lösung, sondern es bedarf eines Portfolios an Lösungen. Eine davon ist sicher die Konzentration von Versorgungsstandorten; bedenken Sie nur, wie wichtig dies bei Intensivstationen ist.  Es kann keinen Sinn machen, überall kleine Intensivstationen vorzuhalten, die dann schlecht personell ausgestattet sind. Hier muss etwas geschehen. Andere Lösungsansätze sind aber nach wie vor auch das Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland oder der Einsatz neuer, digitaler Versorgungsmodelle. Ich denke, hier haben wir noch lange nicht das erreicht, was möglich ist, um die Patientenver-sorgung  zu verbessern.

Potuschek: Derzeit erfolgt die Planung der ambulanten Versorgung in den Zulassungsausschüssen der Kassenärztlichen Vereinigungen nach Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses und die Krankenhausplanung in den Planungsausschüssen der Länder. Wäre es unter Berück-sichtigung der im Gutachten unterbreiteten Vorschläge nicht erforderlich, eine sektoren-übergreifende Versorgungsplanung vorzunehmen?

Beivers: Doch, das ist es  –  mehr denn je. Es ist nach wie vor schwer zu verstehen, warum das getrennt erfolgt. Darüber diskutieren wir nun seit mehr als 30 Jahren und kommen nur wenig voran. Im Bereich der Notfallversorgung soll so etwas nun gelingen, beispielsweise durch integrierte Notfallzentren. Wir warten derzeit noch auf den Gesetzentwurf, der dann hoffentlich in die richtige Richtung weist. Wenn es hier nicht gelingt, dann wird es  auch in anderen Bereichen schwer. Zentral ist, dass die unterschiedlichen Planungsansätze der einzelnen Sektoren wie auch die Vergütungsmodi angepasst werden. Wer intersektoral versorgen möchte, muss auch intersektoral vergüten und die richtigen Anreize setzen, sonst wird hier wenig passieren. Aus anderen Regionen Europas wissen wir, dass Regionalbudgets oder auch sogenannte Capitation-Modelle helfen können, die richtigen Anreize für eine gute, effiziente und sektorenübergreifende Versorgung zu setzen.

Potuschek: Ist durch eine, wenn auch nur teilweise, Realisierung der Gutachtervorschläge das Ziel einer höheren Versorgungsqualität zum Patientenwohl tatsächlich erreichbar oder stehen die ökonomischen Überlegungen, auch unter dem Aspekt der nicht ausreichenden Investitions-förderung durch die Länder, im Vordergrund?

Beivers: Ein guter Gesundheitsökonom schaut nie alleine auf die Kosten, sondern fragt immer, welchen (Patienten-)Nutzen bekommen wir für welche Preise/Ausgaben. Kaum jemand aus der Fachwelt glaubt, dass wir mit einem Umbau der Krankenhauslandschaft, das heißt mit weniger, aber größeren und besser ausgestatteten Zentren, Geld sparen. Im Gegenteil: Zunächst werden wir durch neue Investitionen mehr Geld ausgeben müssen. Das ist aber kein Problem, wenn dadurch die Behandlungsqualität steigt, wie wir das erwarten. Es ist doch an der Zeit, dass wir jetzt – wo wir als Bundesrepublik Deutschland  noch finanziell potent sind – in die Versorgungsstruktur der Zukunft investieren, gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der zunehmenden Morbidität.